Turnusmäßig tauchen ja stets die gleichen Fragen in den illustren Kreisen der Selfpublishing-Autoren auf. Und turnusmäßig entbrennen die stets gleichen Diskussionen darunter. Ein wenig mutet das ja schon an, als hätte Pawlow das Glöckchen geläutet.
Eine davon ist die Frage nach den von mir so genannten »99ern«.
Der versierte Leser kennt sie: Bücher (eBooks), die direkt bei Erscheinen für wenige Tage bis Wochen oder sogar dauerhaft für 99 Cent verkauft werden. Im übrigen ist dies ein amazonspezifisches Problem, aber dazu später mehr. Der weniger versierte Leser wird die Edvard-Munch-Schrei-Pose einnehmen und laut brüllen: »Waaaaas!? 99 Cent? Ja, sind die denn irre?« Die gleiche Frage, die übrigens Debüt-Autoren auch stellen. Öffentlich. Und damit die ganze Diskussion erst lostreten.
Ein eBook für 99 Cent. Das macht 29 Cent Umsatz. (Ja, Umsatz, nicht Gewinn. Man beachte den Unterschied.) Kurz gesagt: Da diese Bücher gleichzeitig auch bei Kindle Unlimited verfügbar sind, ist es quasi logisch, dass der besagte Autor über besagtes Leihsystem mehr an seinem eBook verdient. Mal ein Beispiel frisch aus dem Hirn des Milchmädchens gezogen: Das Buch hat in KU 300 sog. KENPC (der Einfachheit halber nennen wir es mal Seiten). Jede Seite bringt 0,003€. (Ja, wirklich 0,3 Cent.) Geht das Milchmädchen davon aus, dass Lieschen Müller ihr Buch über die Leihbücherei von Amazon komplett gelesen hat, bekommt es dafür also 90 Cent. Rundweg das Dreifache, was es bekäme, wenn Lieschen es gekauft hätte.
Waren Sie schon mal in einem dieser 1€-Läden? Vermutlich, oder? Ist wie McDonalds. Keiner geht hin, aber alle kennen die Angebote.
Aber dann kennen Sie wahrscheinlich auch den Effekt, der nun einsetzt beim Leser. Denn in diesen Läden ist die Hemmschwelle beim Kaufen unfassbar weit unten. Die Frage nach dem »Brauch ich das?« wird beantwortet durch: »Kostet ja nur 1€.« Am Ende haben Sie 6-7€ an der Kasse gelassen und freuen sich, dass Sie so wenig bezahlt haben. Für Dinge, die Sie hinterher nie wieder ansehen werden. Weil Sie sie tatsächlich nicht gebraucht haben.
Den gleichen Effekt haben Sie auch bei diesen 99ern auf Amazon. Die dadurch entstehende Beschleunigung bei den Verkaufszahlen ist vergleichbar mit einem Erdrutsch. Gingen wir von einem normalen Preis von 2,99€ und somit von 1,72€ Umsatz pro Verkauf aus, müsste ein Autor knapp die 6fache Menge verkaufen, um … Ja, um was eigentlich? Das hört man immer wieder, aber dieser Vergleich ist Nonsens. Denn: Naturgemäß wird man nicht diese Mengen verkaufen, wenn man einen regulären Preis nimmt. Ich kann froh sein, wenn ich ein Drittel der Verkäufe generiere, die andere mit 99 Cent machen.
Also für das Milchmädchen: Der 99er geht in Monat X 3.000 Mal raus. Das bringt dann allein an Verkäufen: 870€. Das Buch mit dem regulären Preis wird nur 1.000 Mal verkauft. Das wären dann: 1.720€.
Huch!? Jetzt hat das Milchmädchen im ersten Anlauf einen Herzinfarkt. Schenken wir ihr Betablocker und warten auf Besserung.
Derweil wenden wir uns Kindle Unlimited zu. Denn … man kann davon ausgehen, dass die Hälfte oder sogar zwei Drittel der weiteren Einnahmen des 99ers von dort stammen. Ich bin nett und setze mal zwei Drittel an und schon landen wir beim Monatsumsatz des 99ers bei 2.610€.
Klingt gut, nicht wahr? Und jetzt kommt noch etwas Saucooles hinzu: Die Sichtbarkeit. Der 99er wird allein durch den Preis (auf Amazon) eine höhere Sichtbarkeit erzeugen. Denn sein Buch schießt im Ranking nach oben wie mancherorts die Pilze aus dem Boden. Hält 2-3 Monate, bis dahin sollte er nachgelegt haben oder seine Einnahmen brechen zusammen.
Jetzt klingt es plötzlich nach Stress, gell? (Keine Sorge, nicht für jeden. Mancher reißt das wirklich auf einer Arschbacke ab.) Je mehr Bücher (Backlist-Titel dann zum regulären Preis) der 99er draußen hat, desto weiter füttert sich das auf. Bishin zum Five-Figure-Paycheck. Vorausgesetzt man bleibt mit allen seinen Büchern in Kindle Unlimited und damit exklusiv im Amazon-Mikrokosmos, der dann zusätzlich auch noch diverse Boni ausspuckt/ausspucken kann.
Fakt ist jedoch, dass diese Bücher viel zu oft gar nicht gelesen werden, denn täglich drängen dutzende solcher Erscheinungen nach. Man kommt nicht hinterher. (Ich kann das aus eigener Erfahrung übrigens bestätigen. Ich hab das auch fast ein Jahr mitgemacht und sitze noch immer auf ungelesenen Büchern im dreistelligen Bereich.) Wie bei den Sachen aus dem 1€-Laden halt, die ihr Dasein in der hintersten Schublade fristen.
Und genau da setzt der Konflikt ein. Die einen sagen, ganz marktwirtschaftlich/kapitalistisch/nüchtern betrachtet: »Mich interessiert, ob der Paycheck meine Lebenshaltungskosten deckt. Wenn das der Weg ist, dann gehe ich ihn.« Eine Einstellung, die ich persönlich vollkommen legitim finde, bei anderen hingegen die Entrüstung des (selbstgerechten) Künstlers hervorruft: »Ich habe viel Arbeit, Mühe und Liebe in diesen Roman gesteckt! Ich verkaufe mich nicht unter Wert.«
Ich gähne an dieser Stelle übrigens herzhaft, denn da hat jemand die Grundregeln des Kapitalismus’ nicht verstanden. Angebot – Nachfrage. Ein sehr einfaches Wechselspiel. Wenn das Angebot größer als die Nachfrage ist, kannst du für dein Produkt nur Schleuderpreise nehmen. Oder du säufst ab. Es nützt nämlich gar nichts, 4,99€ als Preis aufs Produkt zu kleben, was dann im Zweifel sogar realistisch wäre, dir aber nichts bringt, weil dein Produkt nicht gekauft wird. 0 x 2,89€ macht nämlich … Ups! … 0€. Und so wenig sollte einem die eigene Arbeit wirklich nicht wert sein.
Jetzt aber zu einem ganz anderen Punkt: Dieses Phänomen existiert ausschließlich auf Amazon. Bei tolino, Google Play, iTunes und Kobo geht man mit dem 99er-Spielchen unter, bzw. es rechnet sich einfach nicht. Tolino hat dies unterbunden, indem die Verkaufsränge sich angeblich (ich hab da selbst lediglich 2nd-Hand-Info) aus den Umsatzzahlen des Produkts errechnen. Was schlau ist, denn so kann man über die Preisschraube nicht am Ranking rumspielen, für Selfpublisher mit kapitalistisch geschultem Amazonien-Verstand jedoch der Genickbruch ist. Sie könnten dadurch ihr Buch verschenken und es würde ihnen im Ranking und damit in der Sichtbarkeit rein gar nichts bringen. Also bleiben sie im heimischen Amazonien-Becken, wo ihre Strategie funktioniert.
Und das ist exakt der Punkt, an dem das Huhn und das Ei aus dem Titel auf der Spielfläche erscheinen.
Wann hat diese 99er-Spirale angefangen? Waren es die Leser, die ausschließlich 99er kaufen? Oder haben die Autoren mit ihren Preisaktionen sich den 1€-Laden-Leser erst gezüchtet? Huhn? Ei? Die Frage wird auf ewig unbeantwortet bleiben. Fakt ist: Der Markt ist jetzt einfach so.
Aber ist jetzt jeder dazu verdammt, dieses Spiel mitzuspielen und die Krake Big A. weiterhin zu füttern?
Nein.
Denn es gibt sie. Jene Autoren, die gerade in den Parade-Planschbecken der 99er auch ohne diese Strategie durchkommen. Ja, wirklich. Romance- und Krimi-Autoren, die für 2,99 bis 4,99€ ihre Bücher anbieten und davon leben können. Die sogar auf anderen Plattformen ihre Bücher verkaufen können, wenngleich marktbedingt auch deren größte Einnahmen von Big A. kommen.
Ich verkaufe meine Bücher (eBooks) für 2,99 bzw. 3,99€ (ausgenommen eine Kurzgeschichte, die für 1,99€ auf dem Markt ist). Alle meine Bücher sind dabei ausschließlich in den ersten drei Monaten über Kindle Unlimited erhältlich. Und wenn man mich fragt, wie mein Verhältnis bei den Big-A.-Einnahmen ist, dann sage ich: Lediglich ein Viertel meiner Einnahmen kommt aus Kindle Unlimited.
Was übrigens auch für das Milchmädchen logisch ist, denn auch wenn ich weniger Bücher verkaufe, so komme ich aufgrund der höheren Tantieme auf ganz andere Summen bei den Verkäufen, während meine Zahlen bei Kindle Unlimited im ersten Monat deckungsgleich sind mit jenen der 99er. Auch ich habe teilweise zwischen 600 und 700.000 gelesene Seiten und ja, auch ich habe dadurch ein Niveau erreicht, an dem ich einen dieser besagten Boni habe erwirtschaften können. Nicht nur einmal übrigens. Dennoch ist es bei mir eben nur ein Viertel meiner Einnahmen. Oder mit dem reanimierten Milchmädchen von oben ausgedrückt: Wenn ich 1.720€ mit meinen Verkäufen mache und ein Viertel meiner Einnahmen aus Kindle Unlimited stammen, habe ich am Ende des Monats 2.293€. Ist das Buch gut, wird es weitere Verkäufe der Backlist-Titel zur Folge haben. Je größer besagte Backlist ist, desto höher die Einnahmen, die sich daraus generieren. 3.000€ und mehr sind dadurch übrigens nicht unwahrscheinlich. Durch ein einziges Buch. Die »normalen« Verkäufe der Backlist nicht eingerechnet.
Das sind Zahlen, mit denen man leben kann, nicht wahr? Fünfzehn Prozent meiner Einnahmen (Tendenz steigend) stammen übrigens nicht von Big. A. Die darf das Milchmädchen jetzt noch fröhlich hinzuaddieren. Im Schnitt veröffentliche ich alle drei Monate ein Buch und kann sagen, dass der Effekt von oben reproduzierbar ist. Ich denke, Sie können nachvollziehen, was das dann in meinen Umsatz-Statistiken ausmacht.
Man kann Kritik an den 99ern üben. Der Idealist in mir tut es definitiv, weshalb ich diese Marketingstrategie auch nie genutzt habe. Man kann ihnen jedoch in keinem Fall absprechen, ein gerütteltes Maß an Marktverständnis zu haben. Auch das Veröffentlichen von Büchern ist ein Geschäft. Die kreative Leistung, die vorausgeht, bis das fertige Produkt im Handel erscheint, lässt den Blick darauf gern verschwimmen. Aber am Ende sind Bücher Produkte. Und dann muss man eben entscheiden, wie man diese an die Kunden bekommen möchte. Wege gibt es viele. Den der 99er und jenen, für den der Idealist in mir (und auch anderen) sich entschieden hat. Letzterer mag dabei sogar steiniger sein, eventuell nicht mal lohnenswerter, denn ich gehe davon aus, dass ich inzwischen (nach sechzehn Veröffentlichungen) in etwa ähnliche Ergebnisse erziele wie die 99er nach erheblich weniger Büchern.
Falsch jedoch halte ich die Herablassung jener, die sich auf ihre Scholle »Ich will nicht vom Schreiben leben, deshalb finde ich es verwerflich, literarische Ergüsse zu verramschen.« zurückziehen oder noch viel weiter gehen und behaupten: »Ihr schreibt nicht aus einem Bedürfnis, sondern nur des Geldes wegen.«
Der Markt ist, wie er nun mal ist. Es spielt keine Rolle, wo Huhn und Ei sich gegenseitig in die Pfanne gehauen haben. Man kann drüber jammern, dass es so ist. Oder man kann die Mechanismen des Marktes analysieren und den für sich besten Weg suchen und finden. Denken wir an Rom, da führen auch diverse Wege hin. Trotz und Neid hingegen führen zu rein gar nichts.
Auch Romance- und Krimi-Autoren schreiben übrigens, weil es ihrer Kreativität ein Bedürfnis ist (Ausnahmen bestätigen hier selbstredend die Regel). Dass sie dann anschließend auch unter marktwirtschaftlichen Aspekten an die Dinge herangehen, macht es nicht schlechter. Im Gegenteil, ich gratuliere all jenen, die es schaffen, nicht nur Künstler, sondern auch Geschäftsmann/-frau zu sein. Diese Kombination ist selten und ein Geschenk.