Ich heiße nicht …

Die verschwommenen Erinnerungen, die ich an meine Schulzeit in Bremen habe, sagen ziemlich deutlich, dass ich verhaltensauffällig gewesen war. Impulskontrollstörungen, massive Abgrenzung von anderen und mit Sicherheit noch mehr. Doch der Gaußsche Weichzeichner meiner Psyche hat es in dicken Nebel gehüllt.

Eine Ex-Mitschülerin aus der Grundschule meinte nach Jahren mal: »Du hast mit Stühlen geschmissen.«

Ich kann mich nicht erinnern, aber ich glaube nicht, dass sie gelogen hat. Warum sollte sie das auch?

Ob jemand darauf reagiert hat? Lehrer?

Nein.

Meine Leistungen waren zu gut, eine soziale Benotung gab es damals nicht. Also konnte man dezent vertuschen, dass mit dem Kind etwas nicht stimmte. Fensterscheiben, Fassade, Vorgarten und Vorhänge waren sauber. Wen scherte es, wenn dahinter der Wahnsinn ein Zuhause besaß?

Am auffälligsten hätte es werden müssen, wann immer man meinen vollständigen Namen in der Schule nutzte.

Es war nämlich der falsche Name. Mein Stiefvater hatte mich unter seinem Nachnamen an der Grundschule angemeldet. Vorschnell, denn der Streit um die Namensänderung dauerte schon eine ganze Weile.

Er war sich so sicher, dass es so kommen würde, dass er einfach gemacht hatte, was er für legitim hielt.

Und jedes Mal, wenn mein Name aufgerufen wurde, erwiderte ich: »Ich heiße nicht …«

»Aber das steht hier so.«

Wie viel kann man mir von mir selbst eigentlich nehmen, bis ich nicht mehr existiere? Wenn nicht mal mehr mein eigener Name mir gehört.

Ich will nicht unfair sein. Die Namensänderung war bereits beantragt, als wir noch in Wilhelmshausen gelebt hatten. Wie alt war ich damals? Fünf? Sechs? Irgendwo in dem Zeitraum bin ich von einer Fremden in unserem Wohnzimmer gefragt worden, ob ich das auch wirklich will. Aus heutiger Sicht ist mir klar, dass das eine Mitarbeiterin vom Jugendamt gewesen sein muss, die die Aufgabe hatte, im Sinne des Kindes zu entscheiden. Meine Mutter hatte das Gespräch vorher mit mir geübt, mir gesagt, was ich sagen soll, wenn sie mich nach dem Warum fragt. Und sie hat nach dem Warum gefragt und all die geübten Antworten bekommen.

Mein Vater hat diesem bürokratischen Vorgang dann über Jahre hinweg Steine in den Weg gelegt. Es zog und zog sich, bis ich vielleicht zehn oder elf war. Vielleicht auch schon zwölf. So genau weiß ich das nicht mehr. Aber ich weiß noch, dass es eine Zeit gab, in der ich immer wieder zum Jugendamt musste. Zu einem Mitarbeiter dort, der ein Gutachten über mich erstellen sollte. Ein älterer Teddy von einem Mann im Jesus-Look. Ein sehr netter Mann.

Nach unserem letzten Gespräch lud er mich auf ein Eis ein. Als Abschiedsgeschenk. Es war gerade Jahrmarkt direkt auf dem Platz in Bremen Vegesack, in dem damals das Jugendamt seinen Sitz hatte.

Beim gemeinschaftlichen Eisessen brach er in Tränen aus, etwas, das ich nie vergessen werde.

»Wenn ich vor dir stehe, habe ich nicht das Gefühl vor einem Kind zu stehen, sondern vor einer Erwachsenen.«

Ich konnte nichts sagen, glaube ich. Falls doch kann ich mich nicht mehr daran erinnern.

Aber ich weiß noch, wie hilflos ich mich in dem Moment gefühlt hatte. Wie wütend ich war.

Er sah, dass etwas nicht stimmte. Getan hat er nichts.

Einen mir nicht näher bekannten Zeitraum später saß ich in einem Büro. Jugendamt? Anwalt? Ich weiß nicht mal mehr, welches Geschlecht der Mensch hinterm Schreibtisch hatte. Aber mein Gefühl sagt mir, dass es eine Frau war.

Ein letztes Mal die Frage, ob ich das auch wirklich will.

Mein Herz raste, meine Kleidung klebte an mir, so stark schwitzte ich. Der brennende Ball in meinem Magen zerriss mich.

»Nein. Ich möchte das nicht.«

So leise. So gebrochen. Ich höre meine Worte noch immer.

Ich wollte nicht den Namen des Mannes tragen müssen, der für mich die Angst war.

Ich hatte solche Angst davor, die Wahrheit zu sagen. Solche Angst vor den Konsequenzen, die darauf folgen würden. Oder könnten. Ich weiß nicht mehr, ob es welche gab.

An der nächsten Schule trug ich endlich meinen richtigen Namen.

Ich bin die Frau mit den drei Namen. Jenem, den ich durch Geburt erhielt. Es ist der Nachname meines leiblichen Vaters. Der Name einer Familie, mit der ich gebrochen habe. Der Name eines Mannes, der mich gelehrt hat, dass Liebe eine Ware ist. Er pikt mich jedes Mal, wenn ich ihn sehe. Aber es ist auszuhalten.

Jenem, den man mir hatte aufzwingen wollen und den ich bis heute nicht ertrage. Nicht mal am Klingelschild meiner Mutter.

Und jenem, den ich mir durch meine Schriftstellerei selbst habe geben können. Er steht ganz offiziell als Künstlername in meinem Ausweis.

Wundert es, dass ich unter diesem Namen mein Leben führe?

Wundert es, dass ich mich nur mit ihm frei fühle?

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