Hey kleine Schwester

Ich weiß, dass wir schon lange keinen Kontakt mehr haben. Und dieses letzte Weihnachten tut mir noch immer weh.

Aber es ist in Ordnung so.

Die Dinge, die du mir vorgeworfen hast, sind richtig.

Ich bin diese Diva. Ich verliere manchmal die Fassung und ich werde dann laut.

Ja, deine Kindheit war überschattet von der meinen. Und das tut mir leid.

Aber andererseits auch wieder nicht.

Denn wenn deine Kindheit nicht vor der meinen untergegangen wäre, wäre es dir genauso ergangen.

Du erinnerst dich nicht mehr. Und das ist auch gut so.

Aber ich tue das.

Ich kann dich noch so schrecklich in deinem Zimmer weinen hören, nachdem er dir die Hausaufgabe zerrissen hat, weil er der Meinung war, dass du es nicht ordentlich gemacht hast.

Du erinnerst dich nicht mehr daran. Aber ich erinnere mich, wie wir zusammen die ausgeschnittenen Bilder geflickt und in dein Heft geklebt haben. So vorsichtig, dass die Lehrerin nicht sehen würde, was er angerichtet hat.

Du, die du die Hausaufgaben nie an deinem Schreibtisch, sondern immer in der Küche gemacht hast, während Mutti gekocht hat, hattest plötzlich Angst, deine Hausaufgaben dort zu machen, wenn er da war.

An jenem Tag versprach ich dir, dass du mit deinen Hausaufgaben immer zu mir kommen könntest.

Du kamst. Und wir machten sie zusammen, wenn du nicht weiterwusstest.

Du erinnerst dich nicht mehr daran, wie du eines Tages heulend am oberen Treppenabsatz direkt neben meinem Jugendzimmer gestanden hast.

Aber ich tue es.

Und ich höre ihn noch immer vom Fuß der Treppe zu dir sagen: »Komm hier her.«

Ich wusste, er würde dich schlagen, wenn du es tätest. Auf dieser Treppe. Und du würdest dich dort auf den untersten Stufen zusammenkauern, die Arme vor dem Gesicht, und ignorieren, wie hart die Stufen sich dabei in deine Rippen bohren. So hart, dass du später die Spuren auf deiner Haut sehen können würdest.

Also bin ich rausgegangen. Habe die ständig aus den Angeln rutschende Zimmertür angehoben und aufgezogen. Ich bin an dir vorbei, die Treppe runter.

Zwei Stufen vor ihm blieb ich stehen. Ich sah ihm direkt in diese eiskalten Augen.

»Wenn du einen Sandsack suchst, dann nimm jemanden auf deiner Augenhöhe.«

Ein weiterer großer Sieg meines Lebens.

Er hat dich nicht angefasst.

Ja, ich bin all das, was du mir vorgeworfen hast.

Deine Kindheit wurde von meiner Jugend überschattet. Weil es nicht anders ging. Ich habe Narben davongetragen, dass es so war.

Und ich trage diese Narben auf der Seele auch, damit du sie nicht tragen musst.

Ich hab dich lieb.

Aus der Ferne.

Dann musst du dich wenigstens nicht daran erinnern, was einmal war. Es ist besser so. Ich hoffe, es geht dir gut da draußen. Ich hoffe, du hast ein schönes Leben. Ich wünsche es dir.

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