Stellen Sie sich vor, da ist ein Mensch, der mit geringem Aufwand möglichst viel und schnell Geld verdienen möchte. Er stöbert ein bisschen im Netz und stolpert über den Begriff »Kindle Business«. Er liest sich in das Thema ein, guckt ein paar Videos auf Youtube, kauft eventuell sogar einen »Workshop« von einem dieser Vertreter und entwickelt damit eine Strategie.
Nennen wir diesen Menschen der Einfachheit halber C. C. geht nun also los, eventuell bei Fiverr aber auch auf anderen Plattformen, und heuert Ghostwriter an. Diese schreiben ihm für einen Appel und ein Ei Geschichten nach seinem Strickmuster, ggf. sogar auf Basis bereits existierender Vorgaben und Szenen, die C. der Einfachheit halber aus Büchern genommen hat, die sich erfolgreich von anderen Autoren haben verkaufen lassen.
Diese Geschichten sind meist nicht sehr lang, denn sonst würde der Preis des Ghostwriters ins Unermessliche steigen. Gehen wir mal von ca. 25.000 Wörtern aus. Pro Geschichte. Das sind – wenn man es richtig setzt – in etwa 100 Seiten. Solche Sachen lassen sich binnen einer Woche schreiben, der Arbeitsaufwand ist entsprechend gering.
Da C. weiß, dass Romance sich gut verkauft, wird er seine Geschichten in diesem Bereich ansiedeln. Aufgrund der erotischen Szenen, die die Romance beinhaltet, wird es also noch leichter, diese 25.000 Wörter zu schreiben, denn es entfällt ein nur geringer Teil auf einen Plot. Der Rest kann mit beliebig viel Erotik und einem Happy End aufgefüllt werden.
Oder – wenn er wirklich dreist ist – geht C. los und kopiert einfach den gesamten Roman eines anderen Autors, tauscht die Namen aus und nennt es seine eigene Geschichte.
Und da C. wirklich professionell sein möchte, übersetzt er das dann mit DeepL oder einem anderen automatischen Übersetzer im Netz.
Dann wählt C. ein Pseudonym, bastelt ein Autorenprofil bei Author Central und legt in diesem Namen ein KDP-Konto an.
Dann beginnt er damit, seine Geschichten hochzuladen und meldet sie bei Kindle Select (Kindle Unlimited) an. Alle zwei/drei Wochen eine und das in allen Übersetzungen, die er so vorliegen hat. Wichtig ist dabei die Formatierung der Geschichten, denn genau diese wird dazu führen, dass besagte 25.000 Wörter wenigstens 250 Seiten haben. Und da in Kindle Unlimited je gelesene Seite abgerechnet wird, hat er spontan (sofern er es richtig macht mit ausreichend Abständen etc.) das doppelte oder dreifache der eigentlichen Einnahmen.
Als nächstes wird er sich um Rezensionen bemühen, die seine Geschichten über den grünen Klee loben. Danach wird er sich an Clickfarms wenden. Die bringen ihm zwar noch nicht wirklich viel Geld, sofern er nur diese 25.000-Seiten-Geschichten hat, aber sie pushen ihn mit ihren Ausleihen im Ranking hoch und locken damit »richtige« Leser an. Leser, die sich nicht selten anschließend in Form von Rezensionen beschweren über die gelieferte Qualität.
Bisher ist C. mit seiner Arbeit finanziell nur in Vorleistung gegangen, denn bis zu diesem Zeitpunkt rechnet sich das Spiel noch nicht wirklich. Die Ausgaben für Ghostwriter, Clickfarms und Rezensionen sind ab diesem Punkt eventuell gerade abgedeckt.
Spannend wird es erst jetzt für ihn: Der Moment, in dem er seine Geschichten zu Bundles zusammenfasst. Bei gleicher »großzügigen« Formatierung wie den vorigen Geschichten gibt er nun also sagen wir mal zehn Geschichten in einem Band raus. Zehn Geschichten, die plötzlich 3.000 Seiten haben.
3.000 Seiten. Bei einem aktuellen Seitenpreis von 0,0026€. Das bringt also 7,80€ für jedes von einer Clickfarm durchgeklickte und somit als komplett gelesen notiertes Buch.
C. hat aber nicht nur zehn Geschichten, sondern inzwischen hundert, die er sich aus geklauten Teilen und mit Ghostwritern hat zusammenschustern lassen. Wenn er jetzt also zehn Bundles hat, die jeweils 3.000 Seiten haben, dann sind es bereits 30.000 Seiten, wenn nur jedes Buch ein einziges Mal durchgeklickt wird.
30.000 Seiten. Aber C. wird die Farm ja nicht damit beauftragt haben, das nur einmal pro Monat zu machen. Er wird die Farm auch nicht dafür bezahlen, dass sie nur zehnmal pro Bundle durchklickt. Vielleicht aber für zehnmal an einem Tag. An dreißig Tagen die Woche.
C. hat dann einzig aufgrund der Clickfarms 9.000.000 gelesene Seiten generiert, die ihm nicht nur 23.400€ in die Kasse spülen.
Sondern auch einen Kindle All Star Bonus schenken.
Von 7.500€.
Mit mal mehr oder weniger geklauten Texten. In diversen Sprachen (vorzugsweise Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und Italienisch, denn die kann DeepL am besten). Und dabei sind die »echten« Leser noch nicht mal eingerechnet. Oder Käufer, wobei diese weniger eine Rolle spielen, denn diese Bundles werden zumeist für 2,99€ oder gar 0,99€ verkauft. Die Einnahmen durch die Käufe sind also im Vergleich zu den Einnahmen aus den Leihen lächerlich gering.
Irgendwann kommt Amazon dahinter. Der Account wird gesperrt und C. fängt das Spiel mit einem neuen Pseudonym und den gleichen Geschichten von vorne an.
Bis er von den Falschen klaut.
#copypastecris ist ein Aufschrei, aber nicht mehr als die Spitze des Eisbergs. Aber hier zeigt sich, wie dreist diese Scammer (denn so werden diese Leute genannt) geworden sind. Sie sind inzwischen dazu übergegangen, bei den ganz Großen zu klauen. Weil sie sich sicher fühlen. Weil Amazon zu wenig Prüfroutinen hat, um sie aufzuspüren und vom Markt zu nehmen, ehe sie auch nur auf »Veröffentlichen« klicken können. Etwas, das andere Plattformen und Vertriebswege übrigens erheblich besser als der Marktriese hinbekommen. Diese Scammer sind entsprechend auch ein Amazon-exklusives Phänomen.
Nora Roberts, Kresley Cole, Callie Heart … aktuell sind 34 Autoren offiziell mit 51 Büchern aufgeführt worden. Wie schon gesagt: die Spitze des Eisbergs. Denn die »Kleinen«, die eben kein Millionenpublikum haben, werden ebenfalls geklaut und kopiert, es fällt nur aufgrund ihrer begrenzten Reichweite weniger auf.
#copypastecris meint aber nicht nur massive Urheberrechtsverletzungen, sondern einen wirtschaftlichen Schaden, der sogar Lieschen Müller betrifft, die ihren ersten Roman geschrieben und freudig via KDP (Amazon) veröffentlicht hat. Denn Lieschen Müller bekommt die Auswirkungen dieses Kindle-Unlimited-Betrugs direkt zu spüren, obwohl sie von all dem nicht mal etwas weiß. Denn Kindle Unlimited wird aus einem Fond ausgezahlt. Einem Fond, der durch die vielen durchgeklickten Seiten der Betrüger drastisch verringert wird. Der Betrüger mit seinen neun Millionen unrechtmäßig zusammengeklickten Seiten zieht seine 23.400€ auch aus diesem Fond und senkt damit den Preis je gelesener Seite für sie alle durch die unrechtmäßig abgerechneten Seiten. Und er schnappt sich Boni, die eigentlich rechtschaffenen Autoren zustehen.
Gäbe es diese Scammer nicht, würde der Seitenpreis vielleicht gar nicht bei 0,0026€ sondern vielleicht bei 0,0033€ liegen. Wenn Lieschen Müllers Roman also 300 Seiten hätte, würde sie ohne diese Scammer 0,99€ pro gelesenem Buch in Kindle Unlimited erhalten. Jetzt bekommt sie allerdings nur 0,78€.
Ja, das sind Centbeträge. Richtig. Aber es sind Beträge, die sich summieren. 0,21€ pro in KU gelesenem Buch. Wenn Lieschens Roman 30 Mal gelesen wird, sind das schon 6,30€. Und um es kurz zu machen: Da draußen sind hunderttausende Lieschen Müller, deren Bücher 30 Mal im Monat gelesen werden.
Da draußen sind hunderttausende Autoren in diversen Ländern, die jeden Tag betrogen werden. Einige von ihnen sogar mit ihren eigenen Geschichten.
Wir reden hier nicht von Centbeträgen. Wir reden hier von Millionen.